Thich Nhat Hanh, ein buddhistischer Mönch aus Vietnam und vermutlich einer der wichtigsten Zen-Meister, ist am Samstag im Tue Hieu Tempel in Vietnam, im Alter von 95 Jahren, verstorben.
Als Meditationslehrer, Dichter und Vertreter eines engagierten Buddhismus, genoss er weltweit hohes Ansehen.
Über 70 Jahre lang lehrte er Achtsamkeit und inspirierte Millionen von Menschen durch seine bescheidene und gleichzeitig eindrucksvolle Präsenz.

Sein beherztes Eintreten für den Frieden und soziale Gerechtigkeit führte in den 1960-er Jahren dazu, dass er sein Heimatland verlassen musste. Er sprach fliessend Englisch und Französisch und leistete im Exil in den USA, später auch in Frankreich, Grundlagenarbeit für die Verbreitung und Akzeptanz buddhistischer Ideen in der westlichen Welt.
Im Verlaufe seines Lebens begegnete er vielen grossen Persönlichkeiten wie beispielsweise Martin Luther King jr., der ihn für den Friedensnobelpreis vorschlug. In seinem Buch “Mein Leben ist meine Lehre”, verwebte er auf beeindruckende Weise, was ein einzelner Mensch in dieser Welt bewirken kann.
Bis 2014, als er einen Schlaganfall erlitt, reiste Nhat Hanh, ohne sich zu schonen, um die Welt, um zu lehren und um Meditations-Retreats anzuleiten. In seiner aussergewöhnlichen, fünfundsechzig Jahre umspannenden Lehrtätigkeit hat Nhat Hanh Hundertausende Menschen auf verschiedenen Kontinenten und aus allen sozialen Schichten inspiriert.
Gelehrt wird nicht nur mit Worten. Gelehrt wird durch die Art, wie man sein Leben lebt. Mein Leben ist meine Lehre. Mein Leben ist meine Botschaft.
Thich Nhat Hanh, At Home in the World, Stories and Essential Teachings from a Monk’s Life, Parallax Press, Berkley, 2016
Meine “Begegnung” mit dem Zen-Meister
Mir ist Thich Nhat Hanh erstmals in einem Zen-Sesshin, einem Schweigeretreat, vor über zehn Jahren und dank unserem damaligen Meditationslehrer, begegnet. Er zitiere in den wenigen Momenten, in denen gesprochen wurde, Inspirationen aus den vielen inzwischen auch auf Deutsch übersetzten Büchern des stillen Meisters.
Ende 2021 hatte ich das Glück im Meditationszentrum “Felsentor” auf der Rigi, in der Nähe des Vierwaldstättersees, an einem Sesshin teilnehmen zu können, das Ursula Richard, Übersetzerin zahlreicher deutschsprachiger Titel aus dem Werk von Thich Nhat Hahn, zusammen mit YoEn, leitete.

Im folgenden Beitrag will ich auf den von Shunryu Suzuki (1904-1971), einem weiteren im Westen bekannten Zen-Meister, sowie den von Thich Nhat Than propagierten “Anfängergeist” eingehen. Gleichzeitig versuche ich eine Verbindung zur Arbeit in der Erwachsenenbildung und Lehre herzuleiten. Der sehr persönliche Beitrag ist für mich auch eine Form der Danksagung an Thich Nhat Hanh und Shunryiu Suzuki und die Menschen, die mir den Zugang zu dieser Art die Welt zu sehen, eröffneten.

Im erwähnten Meditationszentrum Felsentor kann es gut sein, dass sich die Meditationslehrenden und Zen-Meister*innen in ihren kurzen mündlichen Impulsen auf Vorträge und Publikationen des japanischen Zen-Meisters Shunryu Suzuki beziehen und eben diesen “Anfänger-Geist” erwähnen.
Den Anfänger-Geist verstehen
Dieser rätselhafte Begriff, der Ansatz der “geistigen Offenheit”, machte mich neugierig. Dank dem kleinen, oben abgebildeten Büchlein aus dem Herder-Verlag, verschaffte ich mir einen ersten Überblick. Es geht um die Überwindung von dualistischem Denken. Im “Herz Sutra” heisst es dazu:
“Avalokiteshvara Bodhisattva, in der Übung der tiefen transzendenten Weisheit, erkannte, dass alle fünf Skandhas leer sind und überwand so alles Leiden. Shariputra, Form ist nichts anderes als Leere, Leere nichts anderes als Form.”
Das “Herz Sutra” ist von äusserster Kürze und Präzision geprägt – ein schönes Beispiel für didaktische Reduktion” – gilt es doch als Zusammenfassung der sogenannten Prajnaparamita-Literatur, einer sechshunderbändigen Bearbeitung der Lehre Buddhas.
Im Zen-Buddhismus ist mit “Anfängergeist” eine Haltung der geistigen Offenheit gemeint.
Der Anfängergeist hat viele Möglichkeiten, der des Experten nur wenige.
Shunryu Suzuki, Herder 2012, S. 22

Offen und unbelastet dem Leben begegnen
Gemeint ist die Absicht, dem Leben und den Situationen in diesem Leben so gegenüberzutreten, als wäre ich ein Anfänger oder eine Anfängerin, als wüsste ich noch nichts. Es ist eine Einladung von Zen-Lehrenden, uns bewusst auf uns selbst zurückzubesinnen, um dabei eine gegebene Situation zu hinterfragen, uns sprichwörtlich zu “wundern”.
Dieser Ansatz, wenn wir etwas neu anfangen, uns dem Nicht-Wissen und vielleicht auch einer damit verbundenen Unsicherheit zu stellen, uns Fragen zu stellen und gleichzeitig zu erlauben, nicht sofort eine Antwort zu haben, Fehler zu begehen … das ist der Kern des Anfängergeistes.
Bei Shakespeare hiess es in “Hamlet” passend: “An sich ist nichts weder gut noch böse; das Denken macht es erst dazu. Der “Anfängergeist” sieht dies ähnlich: Es ist eine Art Weltverständnis, welches uns helfen kann, Dinge zu sehen, wie sie sind. In dem wir uns von einer angenommen Wichtigkeit lösen und vorgefertigte Konzepte hinter uns lassen.
Mitunter ermöglicht uns diese freie und “offene” Perspektive, bisher übersehene Aspekte oder verdeckte Potentiale zu erkennen. Wenn unser Geist wirklich “leer” ist, gewinnen wir an intellektueller Freiheit, wir eröffnen uns neue Handlungsmöglichkeiten.

Doch ohne es zu merken, versuchen wir gewöhnlich, etwas anderes als uns selbst zu verändern, die Dinge ausserhalb von uns in Ordnung zu bringen. Aber es ist unmöglich, die Dinge zu organisieren, wenn ihr selbst nicht in Ordnung seid. Wenn ihr etwas auf rechte Weise, zur rechten Zeit tut, dann kommt alles andere ein Ordnung.
Shunryu Suzuki, Zen-Geist Anfänger-Geist, Unterweisungen in Zen-Meditation, Herder, 2012, S. 29
Über die Meditationspraxis im Zen-Buddhismus
Der Anfängergeist ist eine wichtige Grundausrichtung in der Zen-Meditation. Im Kern geht der Ansatz, oder die Wirkung dieser Haltung weit über die inzwischen auch bei uns immer beliebteren Entspannungs- und Achtsamkeitsübungen hinaus.
In den Meditationsseminaren erinnere ich mich an die Hinweise unseres Lehrers, das Sitzen im Zazen als eine Art “Umarmung der Welt” zu verstehen. Dabei soll unser Geist stets dem Atem folgen. Atme ich ein, tritt die Luft in die innere Welt ein; atme ich aus, geht die Luft hinaus in die äussere Welt.
Die innere Welt ist ohne Grenzen, aber auch die äussere Welt ist ohne Grenzen. Auch wenn wir Menschen von “innerer Welt” oder “äusserer Welt” sprechen, in Wirklichkeit gibt es stets nur eine Welt. Hilfreich ist dabei der Gedanke, dass unser Hals oder unsere Luftröhre wie eine Schwingtüre funktioniert. Die Luft kommt herein, die Luft geht heraus.

Unser Drang in Kategorien zu denken und zu bewerten
Wir Menschen sind geprägt durch Erziehung, Erfahrungen, angelerntes Wissen und individuelle und kulturelle Annahmen. Wenn wir etwas sehen oder wahrnehmen, suchen wir nach einer passenden Schublade oder Kategorie. Wir sind Meister*innen im Sortieren und Bewerten.
Dies dient vermutlich unserem Bedürfnis nach Sicherheit. Gleichzeitig verschenken wir uns eine Möglichkeit, etwas Neues zu lernen. Manchmal übersehen wir dabei auch Informationen, die eigentlich vor uns auf dem Tisch liegen.
Klar, unsere Erfahrung und Expertise sind hilfreich, wenn es in einer bestimmten Situation darum geht, rasch eine Antwort zu liefern oder zu handeln. Denkroutinen und eingeschliffene Reaktionsweisen ermöglichen produktives Arbeiten. Aber gleichzeitig kann uns dieser Wissensrucksack belasten oder er verhindert, neu und unbefangen an eine Aufgabe zu gehen.

Anfängergeist und Didaktische Reduktion
Inzwischen bin ich seit mehr als 20 Jahren in der Erwachsenenbildung unterwegs. Als Experte für #DidaktischeReduktion führe ich Trainings und Weiterbildungen in der Schweiz und international durch. Im Februar erscheint mein drittes Fachbuch zum Thema mit dem Titel “Mini-Handbuch Didaktische Reduktion” beim Beltz Verlag.
Im Mai starte ich eine Podcast-Serie mit dem Titel “Education Minds – Didaktische Reduktion und Erwachsenenbildung”. Dort lade ich interessante und inspirierende Bildungsköpfe ein und stelle ihnen Fragen zu ihrer Erfahrung und Expertise.
In der Berufsbildung, in der Aus- und Weiterbildung gibt es den Konsens, dass Menschen sich neues Wissen aneignen können und Zertifikate und Erfahrung eine Art Lebensversicherung auf dem Arbeitsmarkt bedeuten. Viele Menschen wenden viel Zeit, Geld und Kraft dafür auf, laufend neue Abschlüsse zu erzielen, um sich als Expertin oder Experte für bestimmte Aufgaben in Position zu bringen.
Kein Wunder, denn in den Organisationen und Betrieben rufen sie nach Expert*innen und ein Fehler oder Nichtwissen kann fatale Konsequenzen nach sich ziehen. Leicht könnte von dort die Kritik kommen, die Einladung nach mehr “Anfängergeist” passe nicht zum herausfordernden Alltag in modernen Lern- und Arbeitsumgebungen einer digital transformierten Realität.
Dabei ist es gerade diese zunehmende Stofffülle, die wachsende Komplexität der Aufgaben, die nach “Leerheit” oder im Jargon der Erwachsenenbildung: Fokus ruft. Weil uns der Anfängergeist erlaubt, eine Situation völlig neu zu sehen, erkennen wir besser, was wirklich zählt und wichtig ist.
In dem wir mit den staunenden Augen einer Anfängerin oder eines Anfängers grundlegende Fragen, eben “Anfängerfragen” stellen, gelangen wir möglicherweise zu innovativen Antworten und schaffen uns potentielle Lernchancen.

Begegnung wagen
In der Arbeit oder in Weiterbildungen treffen wir auf andere Menschen. Jeweils viel zu schnell machen wir uns aus einzelnen Beobachtungen ein Bild oder stecken diese Personen in Schubladen. Selten fragen wir uns, ob die im ersten Moment generierten Annahmen, wirklich stimmen.
Eine Begegnung im Sinne des Anfängergeistes erlaubt uns positive Überraschungen zu erleben. Plötzlich fällt uns an dieser Frau, an diesem Mann, etwas auf, was wir bisher übersehen haben. Ein Lachen, ein Satz, eine Körperbewegung, die etwas bei uns auslösen.
Wir gehen in Resonanz und nehmen diesen Menschen ganzheitlicher wahr.
Dies kann uns auch auf die Sprünge helfen, wenn wir an einem Problem oder in einem Konflikt hängengeblieben sind und mit dem “Brett vor dem Kopf” in der Sache nicht weiterkommen. Die Betriebsblindheit ist manchmal sprichwörtlich, auf beiden Augen. Der “Anfängergeist” wird damit zu einer Einladung, uns wiederholt daran zu erinnern, unser Denken flexibler, weicher oder offener einzusetzen.
In dem wir in einer herausfordernden Situation bewusst den Schalter der Expertin oder des Experten auf “Anfängerstatus” umlegen, gelingt es uns leichter, ausgetretene Denkpfade hinter uns zu lassen. In einer Kursgruppe oder in einem Team in einer Organisation, kann der Anfängergeist auch wiederholt eingeübt und in der Kommunikation geübt werden.
In dem wir beim Austausch, bei einer Sitzung aus einer fast naiven oder kindlichen Perspektive Fragen stellen und beantworten. Und damit als Expertinnen und Experten für unser Leben echten und nachhaltigen Lösungen, die das Problem bei der Wurzel packen, den Weg bereiten.
Ressourcen:
Shunryu Suzuki, Zen-Geist Anfänger-Geist, Unterweisungen in Zen-Meditation, Kamphausen Theseus, 2016
Thich Nhat Hanh, Mein Leben ist meine Lehre, Autobiographische Geschichten und Weisheiten eines Mönches, O. W. Barth Verlag 2017 (Überetzung von Ursula Richard)
Kurzes Filmportrait zu Thich Nhat Hanh von SRF, 22.1.22
Dokumentarfilm “Walk with Me”, Frankreich, USA, Grossbrittanien, 2017
Yvo Wüest, Mini-Handbuch Didaktische Reduktion, Beltz-Verlag, 2022
Resonanzerfahrung und Demokratiebildung, ein Gespräch zwischen Lavdije Zidi und Yvo Wüest, Blog der Heidelberg School of Education, Januar 2022
Fachgruppe für Didaktische Reduktion bei LinkedIn
Podcast “Education Minds – Didaktische Reduktion und Erwachsenenbilldung zu “Didaktische Reduktion und Buddhismus”.
Die Welt mit den Augen eines Kindes betrachten, möchte ich mir mein Leben lang bewahren 🍃