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12: Die Digitale Stube aufräumen

In diesem Blog dreht sich alles um “Didaktische Reduktion” und Erwachsenenbildung. Der Stofffülle begegnen und Komplexität bearbeiten, damit neue Generationen von Lernenden leichter Zugang zu herausfordernden Inhalten finden ist, so lautet unser Motto.

Doch wie gelingt es uns, nicht nur Lernangebote ansprechend und fokussiert umzusetzen, sondern auch unser privates Leben “minimalistisch” oder zumindest von Ballast befreit zu gestalten?

Yvo Wüest, Autor des Fachbuches “Mini-Handbuch Didaktische Reduktion” (Beltz 2022), visualisiert eine aufgeräumte “digitale Stube”

Von Vorbildern lernen

In meinen Trainings zu «Didaktischer Reduktion» frage ich die Teilnehmenden gerne, welche Parallelen sie beim Thema «Reduktion» zur Herausforderung «Wohnung aufräumen» sehen. 

In Präsenzseminaren lege ich dazu eine Reihe populärer Ratgeber auf. Oft erlebe ich dabei, dass mehrere Teilnehmende die Bücher kennen. Oder gar zugeben, eines davon zu Hause, gelesen oder unberührt, im Gestell zu haben. 

Es geht um Titel, die laufend neu aufgelegt werden. Alle schreiben über die gleiche Herausforderung: Wie gelingt es uns die eigene Wohnung, das Büro oder wenigsten das Schlafzimmer ein für alle Mal aufzuräumen. Selbst für das Thema «Beziehung» gibt es inzwischen “Aufräumratgeber”. 

Unter den von mir aufgelegten Titeln ist stets auch der Bestseller von Marie Kondo. So heisst die wohl berühmteste “Celebrity” und Pionierin für aufgeräumte Haushalte, deren Buch «The life-changing magic of tidying up» (2014) über 3 Millionen Mal gekauft wurde. 

Als auflockernde Übung und um ein Gespür dafür zu bekommen, was es bedeutet, wirklich auf den Punkt  zu kommen, lasse ich die Teilnehmenden in den Trainings jeweils eines der mitgebrachten Bücher auswählen und während 15 Minuten in Ruhe durchsehen. 

Anschliessen präsentieren sie -im Sinne eines Werbespots und während exakt einer Minute- ihr «Aufräumbuch» und erklären der Gruppe, was die Kernbotschaft oder die Empfehlung der Autorin ist, um zu einer aufgeräumten Wohnung zu kommen. Ihrem Spot fügen Sie eine dringende und begründete Kaufempfehlung an. 

In dem sie bei dieser Übung, wie in der Werbung üblich, ihre Botschaft «zuspitzen», sind sie eher bereit, sich ernsthaft mit dem Thema «Reduktion» auseinanderzusetzen. Sie erkennen, dass ein reduktiver Zugang neue Horizonte eröffnen kann.


Marie Kondo, Das große Magic-Cleaning-Buch: Über das Glück des Aufräumens, Rowohlt 2018

Aufgeräumte Wohnung führt zu klarem Denken

So wie bei Marie Kondo und ihrem berühmten «Aufräum-Ratgeber-Buch», führt diese Auseinandersetzung oft zu unerwarteten Einsichten. 

Marie Kondo schreibt: «Effective tyding involves only two essential actions: discarding and deciding where to store things. Of the two, discarding must come first». 

Zuerst kommt das Wegwerfen. Dann die Reflexion darüber, wohin mit den Gegenständen. Sie fügt die beinahe lebensphilosophische Weisheit an: 

«There is a saying that “a messy room equals a messy mind”. I look at it this way. When a room becomes cluttered, the cause is more than just physical. Visible mess helps distract us from the true source of the disorder. The art of cluttering is really an instinctive reflex that draws our attention away from the heart of an issue». 

Kondo Marie, The life-changing magic of tidying up, 2014, Seite 21

In der Folge empfiehlt sie in ihrem Buch eine Art «Komplexitätsreduktion» beim Vorhaben, die Wohnung aufzuräumen. Zusammengefasst, lauten ihre Empfehlungen so: 

  • Starte nicht in kleinen Schritten im Sinne von «ich werde jeden Tag ein bisschen aufräumen, um an mein Ziel zu gelangen»
  • Beginne «radikal» und trage alle (alle!) Gegenstände einer bestimmen Gattung für eine Auslegordnung am Boden aus
  • Beginne nicht mit Objekten, zu denen du eine sentimentale Verbundenheit verspüren könntest, wie z. B. Fotos oder Briefe, die du erhalten hast
  • Durch das Ausbreiten wirklich aller Gegenstände einer Art, erkennst du erst den Umfang an Einzelstücken, welches du gegenwärtig besitzt
  • Nimm jedes Objekt in die Hand und überlege, ob es dir Freude schenkt («keep only those things, that spark joy»)
  • Fühlst du keine Freude oder Energie, wirf es fort (oder spende es)
  • Vergiss alle anderen Aufräumsysteme («überlege dir bessere und sparsamere Aufbewahrungsmöglichkeiten») und entledige dich zuerst vor Überflüssigem, bevor du an den Lagerhaltung etwas veränderst
  • Begine mit den Kleidern, fahre mit Bücher fort, entrümple dein Bettzeug und nähere dich schrittweise und bereits geübt im Fortwerfen den «sentimental» besetzten Gegenständen
  • Erkenne, dass ein von Überfluss befreiter und einfach strukturierter Haushalt ein Kraftort sein kann und deine Kreativität beflügeln wird

Im übertragenen Sinne ist die Frage interessant, welche Freiräume Sie sich als Trainer, Ausbilderin, Coachin oder Lehrperson erarbeiten, in dem Sie Ihre Inhalte «didaktisch reduziert» aufsetzen. 

Und welche Freiheit und Einfachheit sie mit klug aufbereiteten und fokussierten Lernangeboten den Teilnehmenden schenken. Damit diese selbstorientiert Schwerpunkte und Vertiefungsmöglichkeiten wählen können. 

Schreibprozess “Mini-Handbuch Didaktische Reduktion”, Playa Canteras, Gran Canaria, Oktober 2021

Die digitale Stube ausmisten

Der Begriff “digitaler Minimalismus” ist ein eher neues Feld. Cal Newport ist vermutlich der erste, der darüber publizierte. Er ist ein US-amerikanischer Sachbuchautor und Professor für Informatik an der Georgetown-Universität. Er prägte mit seinem ab 2007 veröffentlichten “Study-Hacks-Blog” den Begriff “Deep work”, der sich auf Lernen ohne Ablenkungen wie E-Mail und soziale Medien bezieht. Ab 2017 begann er “digitalen Minimalismus” zu propagieren. Die dominante Rolle von E-Mail und Chat bezeichnete er als “hyperaktiven Schwarmgeist”.

Dies passt zu unserem eingangs aufgeworfenen Thema, die aufgeräumte Wohnung. Diese können wir sehr wohl von Gerümpel, überflüssigen Kleidern, Schuhen und nie oder kaum benutzten Gegenständen befreien. Doch es ist die digitale Stube, oder Welt, in der wir viele Stunden täglich verbringen, in der wir ebenfalls regelmässig aufräumen sollten.

Viele Menschen haben dort auf ihren Smartphones, Laptops und Ordnern ein grösseres Durcheinander, als im Besenschrank oder Keller. Idealerweise beginnen Sie noch heute Ihre digitale Stube aufzuräumen:

  • Befreien Sie den Desktop von überflüssigen Elementen
  • Löschen Sie diese Elemente oder legen Sie sie sauber ab
  • Löschen Sie auch Apps, die nie brauchen
  • Suchen Sie gezielt im E-Mail-Postfach nach “Benachrichtigungen” bestimmter Apps und löschen Sie diese
  • Reservieren Sie sich mehrmals eine Stunde am Stück und suchen Sie nach überflüssigem Material, dass Sie löschen können
  • Besuchen Sie ihre Cloud und fahren Sie dort mit dem Löschen weiter
  • Verschieben Sie Dokumente in korrekt beschriftete Ordner, die einer logischen Struktur folgen
  • Erstellen Sie eine Liste aller Social Media-Konten und überlegen Sie sich: brauche ich alle diese Konten? Löschen Sie alle überflüssigen Konten.
  • Melden Sie sich von möglichst allen Newslettern ab, die inzwischen bedeutungslos sind.
  • Stellen Sie sich die Gretchenfrage: Wie viele Geräte habe ich aktuell und brauche ich wirklich alle? Verschenken Sie die überflüssigen Geräte einer nahestehenden Person oder einem Projekt für armutsbetroffene Menschen.
Shunryu Suzuki, Zen-Geist Anfänger-Geist, Unterweisungen in Zen-Meditation, Herder 2009

gute bücher erneut lesen

Ich konsultiere regelmässig meine Büchersammlung und wähle dort einen Titel aus, den ich schon einmal mit Genuss gelesen habe. Immer wieder staune ich, zu welchen Einsichten ich gelangen kann, wenn ich den gleichen Text erneut lese. Weil ich mir früh angewöhnte, hinten im Buch Kerngedanken und Erkenntnisse in Stichworten oder als Mind-Map zu notieren, erkenne ich beim späteren Abgleich Unterschiede und zusätzliche Interpretationen beim neuerlichen Lesen.

Schwieriger umzusetzen erlebe ich in der Praxis mein Motto: für jedes neu gekaufte Buch ein altes Buch weiterverschenken. Freunde von mir erweiterten diese Regel bereit auf Haushaltsgegenstände, Kleider und Schuhe.

Welcher Hinweis fehlt in diesem Blogbeitrag noch? Vielleicht dieser Tipp: Einmal jährlich durch alle Zeitschriften-Abos gehen und mindestens eines oder mehr davon annullieren, sofern es an Relevanz verloren hat.

Ressourcen:

-Leseprobe zum neuen Fachbuch “Mini-Handbuch Didaktische Reduktion” von Yvo Wüest, Beltz-Verlag 2022

-Kondo, Marie “The life-changing magic of tidying up“, 2014

-Marie Kondo, Das große Magic-Cleaning-Buch: Über das Glück des Aufräumens, Rowohlt 2018

-Cal Newport, Deep Work, Konzentration bitte!, Die Zeit, 28.12.201

2 thoughts on “12: Die Digitale Stube aufräumen”

  1. Wundervolle Anregungen Yvo!
    Ich mag’s auch lieber klar. Wenn sich auf meinem Schreibtisch zu viele Zettelchen mit Ideen oder sonst was angesammelt hat, kann ich nicht mehr kreativ sein. Dann räume ich erst mal auf und danach kann ich dann wieder loslegen.
    Schwierigkeiten habe ich nur mit Erinnerungsstücken. Da bringe ich es nicht über’s Herz, sie weg zu geben. Die kommen dann in schöne Kästchen.

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