
Die unterschätzte Macht der Subtraktion
In der heutigen Zeit, in der das Hinzufügen neuer Funktionen bei Geräten oder Software, neuer Regeln im beruflichen Miteinander oder gar neue Anreize in Verkaufs- und Marketingprozessen alltäglich geworden ist, neigen wir oft dazu, die Kraft der Subtraktion zu übersehen. Für Bildungsfachleute, Erwachsenenbildner, Trainer und Berufsbildner ist es jedoch entscheidend, sowohl das Hinzufügen als auch das Entfernen von Elementen zu berücksichtigen, um wirkliche Veränderungen zu bewirken. In diesem Beitrag plädiere ich für “Weniger ist mehr” und zeige eine Verbindung vom Gedanken der “Subtraktion” zum Thema “Didaktische Reduktion” auf.
Was meinen wir mit Subtraktion?
Die Subtraktion (von lat. subtrahere „wegziehen“, „entfernen“), umgangssprachlich auch Minus-Rechnen genannt, ist bekanntlich eine der vier Grundrechenarten der Arithmetik. Unter der Subtraktion versteht man das Abziehen einer Zahl von einer anderen. Die Subtraktion ist die Umkehroperation der Addition. Das Rechenzeichen ist das Minuszeichen “-“.
Warum die Subtraktion übersehen wird
Es ist auffällig, wie selten wir in verschiedenen Lebensbereichen an die Subtraktion denken. Ob es darum geht, Texte zu verbessern, Reisepläne zu optimieren oder Lego-Konstruktionen zu gestalten – die Mehrheit der Menschen tendiert dazu, durch Hinzufügen zu optimieren. Doch in vielen Fällen würde gerade das Entfernen von Unnötigem zu einer besseren Lösung führen. Leider übersehen wir systematisch solche subtraktiven Veränderungen.
Das Sichtbarkeitsproblem der Subtraktion
Subtraktive Veränderungen sind zudem oft weniger sichtbar als additive. Das Entfernen von Regeln, das Vereinfachen von Prozessen oder das Löschen von Textabschnitten hinterlässt weniger offensichtliche Spuren. Dennoch ist genau diese unsichtbare Veränderung oft verantwortlich für den Erfolg eines Projekts oder Unternehmens.

Eine Testreihe zeigte: Menschen übersehen Möglichkeiten zur Subtraktion
In der Fachzeitschrift Nature wurde über ein Experment berichtet, bei dem es darum gingt, die Bereitschaft zur Subtraktion beim Menschen zu messen. Die Verbesserung von Objekten, Ideen oder Situationen erfordert eine geistige Suche nach möglichen Veränderungen. Bei diesem Experiment wurde untersucht, ob Menschen genauso oft daran denken, Bestandteile zu entfernen, wie sie neue Bestandteile hinzufügen.
Das Ergebnis zeigte: Menschen neigen dazu, eine begrenzte Anzahl von Ideen in Betracht zu ziehen, um den kognitiven Aufwand der Durchsicht aller Möglichkeiten zu bewältigen. Dies kann jedoch dazu führen, dass sie akzeptable Lösungen annehmen, ohne bessere Alternativen in Betracht zu ziehen.
Menschen sind Jägerinnen und Sammler … und zögern, sich von Überflüssigem zu Trennen
Das Experiment zeigte, dass Menschen systematisch dazu neigen, nach zusätzlichen Veränderungen zu suchen und subtraktive Veränderungen zu übersehen. Dieser Fokus auf das Hinzufügen könnte ein Grund dafür sein, dass Menschen Schwierigkeiten haben, überlastete Zeitpläne, bürokratische Hürden und schädliche Auswirkungen (beispielsweise durch das Verbrennen von fossiler Energie) auf den Planeten zu reduzieren.

Den Hang zur Addition überwinden
Einfache Erinnerungen, wie zum Beispiel das Nachdenken über die Option des Entfernens, können Wunder wirken. Oft braucht es nur einen kleinen Anstoß, um uns daran zu erinnern, dass Subtraktion eine mögliche Lösung sein kann. In einigen Unternehmen werden sogar spezielle Rollen geschaffen, wie die “Subtraktionschefin”, die ausschließlich darüber nachdenkt, was entfernt werden könnte, um die Ziele des Teams zu erreichen.
Die Sichtbarkeit guter Subtraktionen fördern
Um das Sichtbarkeitsproblem der Subtraktion zu überwinden, könnten wir versuchen, sichtbare Beweise für erfolgreiche subtraktive Änderungen zu schaffen. Das kann bedeuten, in Kalendern Platzhalter für entfernte, unnötige Meetings zu setzen oder in Dateiordnern Dokumente mit entfernten Textabschnitten aufzubewahren.
Didaktische Reduktion in der Erwachsenenbildung
In einer Zeit, in der das Wissen exponentiell wächst und Bildungsinhalte immer dichter werden, gewinnt die didaktische Reduktion in der Erwachsenenbildung zunehmend an Bedeutung. “Mut zur Lücke” ist nicht nur ein geflügeltes Wort, sondern sollte ein Kernprinzip in der modernen Bildungsarbeit sein.
Die ständige Flut an Informationen und die Komplexität vieler Themenbereiche können für Lernende in der Erwachsenenbildung überwältigend sein. Es ist daher unerlässlich, Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen, um den Lernstoff verständlich und zugänglich zu machen. Dieses Prinzip der Subtraktion erlaubt es, Curricula zu entschlacken und auf das wirklich Relevante zu fokussieren.
Auf überflüssige Inhalte verzichten und die Lernzeit effektiver nutzen
Durch diesen bewussten Verzicht auf überflüssige Inhalte wird nicht nur die Lernzeit der Studierenden effizienter genutzt, sondern es ermöglicht ihnen auch, ein tieferes Verständnis für die Kernthemen zu entwickeln. Anstatt sich in einer Flut von Informationen zu verlieren, können sie sich auf die zentralen Aspekte konzentrieren und diese fundiert erarbeiten.
Schließlich geht es in der Bildung nicht nur darum, Wissen zu vermitteln, sondern auch Kompetenzen zu fördern, kritisches Denken zu schärfen und die Fähigkeit zu entwickeln, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. In der didaktischen Reduktion liegt somit nicht nur ein Mittel zur Effizienzsteigerung, sondern auch ein Schlüssel zur Förderung von tiefgreifendem und nachhaltigem Lernen. Es ist an der Zeit, dass Bildungsfachleute den Wert der Subtraktion erkennen und in ihre Lehrstrategien integrieren.
Fazit
Subtraktion hat ein enormes, oft ungenutztes Potential. Indem wir uns bewusst werden, wie oft wir die Möglichkeit zur Subtraktion übersehen und einfache Methoden implementieren, um dies zu ändern, können wir effektiver, effizienter und erfolgreicher arbeiten und lernen. Es ist Zeit, das Gleichgewicht zwischen Addition und Subtraktion wiederherzustellen und die Macht des “Weniger ist mehr” voll auszuschöpfen.
Ressourcen
-Beitrag in der Harvard Business Review 2/2022: When Subtraction Adds Value: https://hbr.org/2022/02/when-subtraction-adds-value
-Beitrag in Nature 2021: “People systematically overlook subtractive changes”: https://www.nature.com/articles/s41586-021-03380-y
-Podcastepisode Nr. 75: Yvo Wüest – Cognitive Overload und warum weniger oft mehr ist: https://open.spotify.com/episode/3BMTsqU5egizZVdydnpsMB?si=uyvsE2VGSRCpLdxNss3Rgg
-Fachbuch von Leidy Klotz: Subtract, The Untapped Science of Less, Flatiron, 2021: https://www.amazon.com/Subtract-Untapped-Science-Leidy-Klotz/dp/1250249864
“Weniger ist mehr!” wird als geflügeltes Wort gern verwendet, hat aber oft keine echte Konsequenz im Handeln. Ich erlebe in Lehrkräfte-Beratungen, dass den vielfältigen Herausforderungen des Berufs mit einem systematischen Mehr begegnet wird. Mehr Vorbereitung für einzelne Unterrichtsstunden, mehr Elterngespräche, mehr individuelle Lernpläne, mehr Teamsitzungen, mehr Absprachen etc.. Das Ende vom Lied: ein Erleben von Erschöpfung, Überlastung und Enttäuschung darüber, dass der erwünschte Erfolg sich nicht eingestellt hat. Die systematische Überlegung, was kann ich weglassen, reduzieren, um Kreativität und Spontaneität wieder mehr Raum zu lassen und dabei Zeit und Kraft zu gewinnen, ist wertvoll.